Mittwoch, 25. August 2010

Reisen lassen.

Zwei Wochen hatte ich frei, was sich bei meiner Drei-Tage-Woche und einigen Wochenenden auf stolze 18 Urlaubstage verlängert. Und nein: ich bin nicht weggefahren.
Die Wahrheit ist nämlich, ich verreise nicht gerne. Viele Mitmenschen glauben mir das nicht, und verweisen auf meine zahlreichen Auslandsaufenthalte, und ich sei doch soweit herumgekommen. Nun ist aber ein Auslandssemester in den USA, oder ein vierwöchiger Sprachkurs in Florenz, ja selbst ein Jahr in Kyoto ziemlich genau das Gegenteil von Reisen: es ist nämlich "woanders wohnen".

Woanders wohnen tu ich sehr gerne. Ich suche mir eine Unterkunft, und von der Unterkunft erarbeite ich mir innerhalb der ersten drei bis vier Tage meine neue Umgebung: Supermarkt, Arbeit/Uni/Schule, Bäcker, ggf. Friseur, Kirche und andere Infrastruktur werden aufgesucht, und mit imaginären Trampelpfaden in die Mental Map eingetragen.
Bildquelle: http://www.loosetooth.com/Viscom/gf/mental_map.gif
Spätere Abweichungen von den gewohnten Routen benötigen hohe Energie und in der Regel Fremdeinwirkung: Besucher, neue Freunde/neuer Job/neue Wohnung... Reiselust hingegen bedeutet, neugierig zu sein, nicht nur die Straßenseite zu wechseln (Abwechslung!) sondern sogar die Straße, ständig unterwegs sein, öfter mal und immer wieder in fremden Betten schlafen... Anstrengend! Ich hab gar nichts gegen Exotik, aber ich brauche Konstanz (nicht das am Bodensee). 

Deshalb sind auch immer wieder Menschen überrascht, wenn ich behaupte, ich würde gerne mal mit der Trans-Sib nach Shanghai fahren. Oder mit dem Orient-Express. Oder dem Blue Train, oder anderen berühmten Zügen. Oder eine Ostseekreuzfahrt machen, via Stockholm, Baltikum, St. Petersburg, Danzig... da sei man doch dauernd unterwegs? Ja, und nein, denn meine Kabine/Abteil behalte ich ja. Bin also "zu Hause", komme trotzdem herum, perfekt! Nur dass man halt die Mitreisenden immer an der Backe hat, und die meisten davon kann man sich ja in der Regel nicht aussuchen. Nun ist es aber tatsächlich so, dass man nur beim alleine reisen die Möglichkeiten voll ausschöpft (genau wie beim alleine auf Parties gehen): spontane Umwege/Verlängerungen/Kontakte zu "Einheimischen" -- alles alleine viel leichter und angenehmer zu haben. Gute Reisegenossen sind hingegen selten. Schade, kein Plan ist perfekt...

Und so bin ich eben nicht weggefahren in meinen 18 Tagen "Urlaub" - ich hatte wahrhaftig auch zu Hause genug zu tun - und habe stattdessen reisen lassen. Von Hamburg nach Schanghai, mit dem Zug entlang der Seidenstraße, und ich kriege eins-A-Original-Reise-Erlebnisse, wie ich sie so toll niemals selbst erlebt hätte, und kann dabei die ganze Zeit zu Hause auf dem Sofa sitzen!
Quelle: http://www.tina-uebel.de/titel/bilder/tinareise-xs.gif
Über die Hälfte haben wir schon geschafft, und ich hatte noch nicht einmal Blasen an den Füßen/ Rückenschmerzen/Magenverstimmung - toll!
Die Hamburger Schriftstellerin Tina Uebel hat ein Residenz-Scholarship, eine Art "Forschungsaufenthalt" der Stadt Schanghai erhalten. Am 1. September geht's los, also noch fünf Tage ungefähr - Sie ist aber schon vor fünf Wochen losgefahren, und berichtet, je nach WLAN-Lage nicht immer täglich, und auch nicht immer in der richtigen Reihenfolge, von ihren Reiseerlebnissen. Ihre Neugierde, ihre Offenheit, ein Lonely-Planet, eine gehörige Portion Selbst-Ironie und zudem wenige aber solide Russischkenntnisse sind ihre wichtigsten Waffen - ihre berufsbedingte Freude am Wort und Beobachtunsfähigkeit machen die Lektüre zum Vergnügen. Ganz nebenbei wird mir dabei klar, wie wenig ich eigentlich über Asien weiß: wo es anfängt beispielsweise, und wie es dort aussieht. Samarkand, Taschkent, das riecht nach Orangen und fühlt sich etwas staubig an und glitzert gülden - Seidenstraße! Marco Polo! - aber aktuelle Fakten habe ich über diese Fremde nicht. Nicht mal Marco Polo habe ich gelesen!
Ich bin ihr ein paar Tage hinterher, aber wie schön, auch während der Arbeitswoche abends ein bisschen reisen zu können...
Empfehlenswert!

via

Links:
http://de.wikipedia.org/wiki/Kognitive_Karte
http://de.wikipedia.org/wiki/Transsibirische_Eisenbahn
http://de.wikipedia.org/wiki/Orient-Express
http://www.tina-uebel.de/
http://www.gutenberg.org/etext/10636
http://nutriculinary.com/2010/07/21/neues-blog-uebel-unterwegs-von-hamburg-nach-shanghai-auf-dem-landweg/

Die Schrecken des Reisen habe ich unter anderem hier geschildert: Urlaubszeit. Must-Sees. und Alle Wetter

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