Den Auftakt der Ringvorlesung im interdisziplinären Modul "Wissenschaft macht Geschichte", Pflichtveranstaltung für alle Erstsemester im Leuphana Semester, machte gestern Prof. Jörn Rüsen (Witten-Herdecke; KWI). Er sprach über "Humanismus als Bildungskonzept-Glanz und Elend einer Idee" und setzte damit den inhaltlichen Tenor für das gesamte Semester.
Die Überlegung war ja gewesen, für welches historische Thema sich wohl alle Studienanfänger - vom zukünftigen Wasserbauingenieur bis zum Lehramtskandidaten, interessieren würden. Da sich die Uni in einer einzigartigen, und durchaus auch umstrittenen Umbruchsphase befindet, kam die Idee auf, diesen Umbruch - also die Neuausrichtung auf das Konzept des Leuphana Bachelor mit seinen humanistischen Bildungsidealen - wissenschaftlich zu begleiten und dabei kritisch zu hinterfragen. Die Vermutung lag nahe, dass die 1300 Erstsemesterstudierenden, die sich ja aktiv für diesen Studiengang an dieser Universität entschieden hatten, tatsächlich ein Interesse an Bildung haben könnten. Vor allem natürlich ihrer eigenen. Bei der Entscheidung FÜR das Leuphana Konzept hatten sie sich schließlich auch GEGEN andere Konzepte entschieden: den 08/15 Bachelor anderer Universitäten, eine FH-Ausbildung, ein Auslandstudium, eine Banklehre... Dieses Bild des typischen "Leuphanten" ist wahrscheinlich ziemlich idealisiert. Aber als jemand, an dem/der eine Universitätsreform ausprobiert wird, könnte man sich ja auch mal mit den historischen und geistesgeschichtlichen Hintergründen dieser Reform befassen.
Prof. Rüsen hielt also seinen Vortrag. Er hielt ihn nach einem stichworthaften Konzept, und er hielt ihn frei. Der Hörsaal 2 war gut gefüllt, fast 750 Studierende waren anwesend, die Vorlesung gilt als Pflichtveranstaltung, auch wenn die Anwesenheit natürlich nicht kontrolliert wird - Studierende sind erwachsenen Menschen - und das vermittelte Wissen nicht in einer Klausur abgefragt wird. Es soll später nur ein Essay geschrieben werden zur Frage "Was ist der Bildungsauftrag der Universität?", eine unbenotete Studienleistung, immerhin erforderlich um die 5 Credit Points zu erhalten.
Prof. Rüsen sprach frei, aber mit einer klaren Gliederung, ohne Medienunterstützung aber nachvollziehbar, teils geradezu mitreißend über ein komplexes geistesgeschichtliches Thema, das er wohlformuliert und routiniert in eine allgemeinverständliche Form brachte. Wilhelm von Humboldt, Friedrich Schleiermacher, Schiller und immer wieder Kant wurden als Gewährsleute eingebracht. Ein wohlfundierter Überblick und solider Einstieg ins Semesterthema, immer wieder in Bezug gebracht zur heutigen Situation der Studierenden. 1808 wie 2008 wurde statt Bildung (auch der Persönlichkeit) die Vermittlung von "Kompetenzen" (neudeutsch: Employability) gefordert. Damals reagierte Humboldt mit der Gründung der Berliner Universität. Heute reagieren die meisten deutschen Hochschulen mit der Abwendung von deren Prinzipien. Nicht selten unter dem fadenscheinigen Vorwand, sich amerikanische Elite-Universitäten zum Vorbild zu nehmen - Harvard, Yale, Stanford würden das nicht gerne hören, ja von sich weisen, setzen sie doch das Humboldtsche Bildungsideal als bald letzte ihrer Art in der Praxis um.
Kurzum, ein hochinteressanter Vortrag, fand ich. Die Erstsemester fanden das wohl nicht. Vielleicht sind sie nur an der Leuphana, weil sie aus dem Großraum Lüneburg stammen und keine Lust auf ein Leben in der Fremde verspüren. Jedenfalls war der Geräuschpegel kontinuierlich hoch. Kurz nachdem die ersten Zu-Spät-Kommer sich endlich gesetzt hatten, fingen die ersten an, wieder zu gehen. Es wurde gekichert und geratscht, zum Teil zu dritt und über mehrere Reihen hinweg. Es war wahnsinnig schwierig sich zu konzentrieren - sowohl für die interessierten Zuhörer als auch für den Redner.
Vor allem aber war es unaussprechlich unhöflich und zeugte von mangelndem Respekt vor dem Sprecher. Unwichtig, dass er einer der renommiertesten deutschen Historiker ist: wenn einer vorne spricht, dann hören die anderen zu. Und zwar leise. Auch wenn es langweilig ist, dann bleibt man leise - es gibt unzählige Möglichkeiten sich ohne Getuschel zu beschäftigen: Zettel schreiben zum Beispiel. Oder Käsekästchen spielen. Ich kenne einen sehr renommierten Wissenschaftler von der Columbia University, der auf Konferenzen einen konzentriert-interessierten Eindruck hinterlässt, indem er Sudoku spielt. Aber verdammt noch mal: in jedem Fall hält man die Klappe und versucht zu schlafen, ohne zu schnarchen.
Okay, sagt man. Das sind alles Erstsemester. Die müssen bestimmte Kompetenzen, die im "Studierfähigkeitstest" nicht abgefragt werden, noch lernen: z. B. wie man 90 Minuten still sitzt, seine Blase und den Trieb nach Kaffee kontrolliert und zuhört, auch wenn keine bunten Bilder an die Wand projiziert werden. Oder wie man die wichtigsten Gedanken mitschreibt, statt sie von einer später ins Netz gestellten PowerPointFolie abzuschreiben - wenn überhaupt.
Andererseits: die sind alle über 18 - haben die wirklich nie gelernt, wie unhöflich ihr Verhalten ist? Liegt es daran, dass ihre Eltern die anti-autoritär erzogenen Kinder der 68er Generation sind? (sind sie das überhaupt?)
Und vor allem, bin ich wirklich schon so alt und spießig, dass ich über die mangelnden Manieren "der Jugend von heute" stöhne, wohlwissend, dass über meine Jugendgeneration genauso gestöhnt wurde?
Ohweh.
Vielleicht wird es ja nächste Woche etwas besser. Man darf die Hoffnung nicht aufgeben.
http://de.wikipedia.org/wiki/J%C3%B6rn_R%C3%BCsen
Bildquelle Rüsen: http://de.wikipedia.org/wiki/Bild:R%C3%BCsen2.jpg
Dieser Artikel ist irgendwie auch ein Update zu: Alte Zöpfe abschneiden
Samstag, 11. Oktober 2008
Bildung für Studienanfänger. Glanz und Elend einer Idee.
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